Essen für die Seele in der Coronakrise – woher kommt unsere Nervennahrung?
Bei der zweiten Tasse faden Kaffees in meinem provisorischen Homeoffice fiel mir auf, wie sehr mir der frisch geröstete Kaffee aus dem Coffeeshop um die Ecke fehlt. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben die Kaffeebars stark getroffen und obwohl sich viele von uns mit Schokolade trösten, ist auch die Kakaonachfrage gesunken. Nach einem weiteren Koffeinschub fragte ich mich: Was bedeutet das für die Bauern, die Kaffee und Kakao anbauen?
Während im Agrarbereich wegweisende Innovationen wie Proteine auf Pflanzenbasis und vertikale Farmen für Schlagzeilen sorgen, leben viele Bauern in Armut und erhalten nur einen Bruchteil des Geldes, das der Endverbraucher für ihre Erzeugnisse bezahlt. Der niedrige Weltmarktpreis für Kaffee im vergangenen Jahr machte deutlich, dass viele Bauern nicht vom Kaffeeanbau allein leben können. Zudem haben günstige Lebensmittel häufig einen hohen Preis, weil sie auf Kosten der Umwelt gehen.
Für die Lebensmittelindustrie sind extreme Ungleichgewichte allerdings nichts Neues. Während steigende Einkommen und ein grösseres Bewusstsein für eine gesunde Ernährung dazu führen, dass wohlhabende Konsumenten mit immer mehr Nischenprodukten umworben werden (Interesse an einem Kurkuma-Latte?), sind immer noch 690 Millionen Menschen chronisch unterernährt. Durch Covid-19 könnte sich die Zahl der hungernden Menschen bis zum Jahresende 2020 von 135 Millionen auf 265 Millionen verdoppeln. Dass das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen 2020 den Friedensnobelpreis erhalten hat, verdeutlicht die Enormität dieser Herausforderung.
Diese Extreme miteinander in Einklang zu bringen, ist eine Herausforderung, aber nicht unmöglich. Beispielsweise haben wir auf hochwertigen Kakao fokussierten Kakao-Kooperativen in der Côte d'Ivoire Erntevorfinanzierungen bereitgestellt, damit die Bauern ihre Produktionskosten decken können, bevor ihnen das Geld aus dem verkauften Kakao zufliesst. In diesem Jahr erhalten die Bauern durch einen neuen Preismechanismus, der einen garantierten Mindestpreis für Kakaoproduzenten vorsieht, einen Preisaufschlag von USD 400/Tonne Rohkakao über dem Marktpreis. Mit diesem sogenannten ‚Living Income Differential’ will die ivorische Regierung einen Beitrag zu einem existenzsichernden Einkommen für Kakaobauern leisten.
Mit unseren Finanzierungen unterstützen wir Akteure entlang der Lieferkette der nachhaltigen Lebensmittelversorgung – von Kaffeespezialitätenverarbeitern und -marken bis hin zu Kooperativen und Organisationen, die den Handel mit hochwertigem Kakao und nachhaltigem Kaffee beliefern. Damit helfen wir, derartige Extreme zu überbrücken und die Lebensgrundlagen in ländlichen Regionen zu verbessern. Ausserdem tragen wir dadurch zu robusteren Wertschöpfungsketten und einer nachhaltigeren Landwirtschaft bei. Durch unsere Portfoliounternehmen haben wir den Agrarsektor zudem während der Covid-19-Lockdowns unterstützt.
Covid-19 hat deutlich gemacht, wie fragil unser Ernährungssystem ist, und den Fokus auf das Grundbedürfnis für eine gute und ausreichende Ernährung gelegt. In den ersten Wochen der Pandemie war ich froh, einer Gemüsekooperative anzugehören, da ich dadurch sicher sein konnte, jede Woche frisches Gemüse aus lokaler Produktion zu haben. Aufgrund der regelmässigen Arbeitspflichten – jedes Mitglied muss aktiv beim Gärtnern helfen – habe ich vor Kurzem erwogen, die Kooperative zu verlassen. Aber was ist wichtiger als Essen? Sicherlich nicht, ein paar mehr Stunden Zeit für die neueste Netflix-Serie zu haben. Ausserdem weiss man die Arbeit, die hinter den Lebensmitteln im Supermarkt steckt, viel mehr zu schätzen, wenn man einmal im strömenden Regen Bohnen geerntet hat.
Viele Menschen haben aktuell grosse finanzielle Nöte und wenig Geld für fair produzierte (aber teurere) Lebensmittel. Diejenigen aber, die sich diese Produkte leisten können, sollten bedenken, dass unsere Kaufentscheidungen grosse Auswirkungen auf all jene haben, die das, was auf unseren Teller kommt, anbauen – und natürlich auf die Umwelt. Die Pandemie hat uns schmerzhaft deutlich gemacht, wie verwoben und fragil unsere Welt ist. Damit alle Menschen überall auf der Welt genug zu essen haben, müssen wir die Lieferketten der Lebensmittelwirtschaft stärken.
Also tun Sie, was Sie können: Geniessen Sie noch eine Tasse nachhaltig produzierten Kaffee und vergessen Sie nicht, dazu ein Stück hochwertige Schokolade zu essen. Ein Heilmittel für Covid-19 mag es nicht sein. Aber eine höhere Nachfrage führt zu höheren Einkommen für Bauern und kann in diesen herausfordernden Zeiten heilsam für die Seele sein.
Harriet Jackson
Harriet Jackson ist Investment Officer bei responsAbility. Als Mitglied des Sustainable Food Teams betreut sie Fremdkapitalfinanzierungen in Asien-Pazifik. Für das responsAbility Climate Finance Team war sie zudem fünf Jahre lang für die Strukturierung von Saubere-Energie-Investitionen in Banken in Zentralasien, Asien-Pazifik und dem Kaukasus verantwortlich. Darüber hinaus beschäftigt sie sich aktiv mit dem Gender Lens Investing – einem Anlageansatz, der eine finanzielle Rendite mit der Förderung der Geschlechterparität verbindet – und dessen Verknüpfung mit Klimainvestitionen.