Geschlechtergleichstellung
Erster globaler ‚Equal Pay Day’ – Euphorie oder Ernüchterung?
Am 18. September findet der erste internationale Aktionstag für Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen (Equal Pay Day) statt. Viele werden die stärkere Thematisierung dieser Problematik auf internationaler Ebene für überfällig halten. Andere dagegen fragen sich vielleicht, warum ein derartiger Aktionstag überhaupt nötig ist. Tatsache ist: 2020 erhielten Frauen im Schnitt nur 77 US-Cents für jeden Dollar, den Männer für gleiche oder gleichwertige Arbeit verdienten. Das entspricht einer durchschnittlichen Verdienstlücke von 23%. So hoch ist diese Differenz natürlich nicht überall auf der Welt und in der EU stehen Frauen mit einem durchschnittlichen Minderverdienst von 15% heute besser da als vor 30 Jahren. Dass es Fortschritte auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter gegeben hat, lässt sich also nicht abstreiten.
Auch klingt 15% vielleicht nicht nach einer grossen Lücke, die zu einem gewissen Grad hinnehmbar erscheinen mag. Doch das sind nicht nur Zahlen. Was genau bedeutet eine 15-prozentige Einkommenslücke tatsächlich? Es bedeutet, dass eine Frau, die seit Beginn ihrer beruflichen Laufbahn der gleichen oder einer gleichwertigen Tätigkeit wie ein männlicher Kollege nachgegangen ist, im Alter von 65 Jahren oder mit Eintritt in den Ruhestand feststellen wird, dass ihr männlicher Kollege rund 30% mehr investierbares Vermögen angesammelt hat als sie. Konkret könnte ein Mann also über sein Berufsleben USD 1 Million ansparen, während eine Frau nur auf USD 700'000 käme. Und das wäre das Best-Case-Szenario. Damit es dazu kommt, müsste man zudem davon ausgehen, dass bei dieser Frau nicht noch zusätzliche negative Faktoren wie Karrierebrüche oder flexiblen Arbeitsmodelle zum Tragen kamen – ansonsten hätte sie am Ende ihres Berufslebens im Schnitt nur USD 200’000 angespart. Warum? Ganz einfach: Weil die Freuden und die Verantwortung der Elternschaft nicht gleich verteilt sind. Auch die Pflege der eigenen Eltern im Alter wird eher von Töchtern als von Söhnen übernommen. Das alles behindert die Karriereentwicklung von Frauen. Die viel aktivere Rolle der Frauen in der Fürsorge für andere – die eigenen Eltern und Kinder – hat also ihren Preis (im Englischen auch bekannt als «motherhood and daughterhood pay gap»). Männer leiden ebenfalls unter dieser Ungleichverteilung – sie haben häufig nicht die Möglichkeit, sich um ihre Kinder oder Eltern zu kümmern und wertvolle Lebenszeit mit ihnen zu verbringen. Tatsächlich ist für sie sogar häufig nachteilig, wenn sie sich dafür entscheiden, eine Auszeit von der Arbeit zu nehmen oder ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um Betreuungs- oder Pflegeaufgaben in der Familie zu übernehmen. Daher ist es auch keine Überraschung, dass sich 2020 rund 70% des globalen Vermögens in den Händen von Männern befanden.
Aber das ist nicht alles. Die lebenslange Einkommensungleichheit führt nicht nur dazu, dass Frauen deutlich weniger vermögend sind als Männer – aufgrund unterschiedlicher Lebenserwartungen müssen sie auch noch länger mit weniger auskommen. Wer die Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen akzeptiert oder die Augen davor verschliesst, nimmt hin, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der unsere Mütter, Schwestern und Töchter im Alter ärmer als Männer sein werden. Und er nimmt hin, dass die meisten Frauen aufgrund dieser Ungleichheit ihr ganzes Leben lang in finanzieller Abhängigkeit leben und darauf angewiesen sind, dass Männer die Verdienstlücke für sie schliessen.
Bei der Gleichstellung der Geschlechter sind in den vergangenen Jahren zwar Fortschritte gemacht worden. Aktuellen Zahlen zufolge ist die wirtschaftliche Kluft zwischen den Geschlechtern aber grösser geworden. Das trifft auf die meisten Ländern zu – auch auf die Schweiz, wo Frauen infolge einer sich hartnäckig haltenden Geschlechterlohnlücke im Schnitt rund 20% weniger verdienen als Männer (auf Ebene des Top-Managements von Unternehmen sind es sogar 31%). Das ist zwar eine Verbesserung gegenüber den 1990er Jahren, als der Abstand rund 30% betrug, aber eine Verschlechterung gegenüber 2000, wie Zahlen der Regierung zeigen. Das bedeutet, dass Frauen in der Schweiz in diesem Jahr ab dem 20. Oktober für den Rest des Jahres de facto umsonst arbeiten. Oder dass Frauen jeden Tag ab 15.24 Uhr keinen Lohn mehr für ihre Arbeit erhalten.
Beim derzeitigen Stand der Dinge wird es noch 257 Jahre dauern, bis Frauen den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit erhalten wie Männer. Sofern es uns nicht gelingt, unser Leben bis ins Jahr 2277 zu verlängern, wird niemand von uns die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen erleben (und vermutlich auch weder unsere Kinder noch unsere Enkelkinder). Tatsächlich sind im Vergleich zum Stand im letzten Jahr1 noch einmal 55 Jahre hinzugekommen.
Besteht also überhaupt Hoffnung auf eine Schliessung der Geschlechterlohnlücke?
Vielleicht ja. Wer über geschlechtsspezifische Lohnunterschiede spricht, kommt nicht am Thema Chancengleichheit vorbei. In den Führungsgremien der Unternehmen sind Frauen immer noch stark unterrepräsentiert. Damit Frauen gleiche berufliche Chancen erhalten, müssten proportional mehr Frauen als Männer befördert werden. Das ist aber nicht der Fall, zumindest nicht in dem Masse, das nötig wäre, um die Lohnlücke zu schliessen und das Bild signifikant zu verändern.
Durch COVID-19 ist die wirtschaftliche Kluft zwischen den Geschlechtern noch grösser geworden. In einer wachsenden Branche oder einem starken wirtschaftlichen Umfeld fällt es den Unternehmen leichter, die Chancengleichheit zu priorisieren. In Unternehmen mit starkem Kostendruck sind die Beförderungsmöglichkeiten dagegen zumeist eingeschränkt. Wenn es nicht genug Spielraum für Beförderungen gibt, wird es noch schwieriger, die Geschlechterparität zu wahren oder zu verbessern. Die gläserne Decke, die den beruflichen Aufstieg von Frauen verhindert, wird dicker und kann kaum noch durchbrochen werden, und Frauen erhalten noch weniger Möglichkeiten, ihr volles Potenzial freizusetzen. Immer mehr Studien zeigen aber, dass Unternehmen, die sich zur Geschlechtervielfalt in ihren Führungsteams verpflichten, eine um 21% respektive 27% höhere Wahrscheinlichkeit zeigen, eine überdurchschnittliche Rentabilität und Wertschöpfung zu erwirtschaften. Je vielfältiger Unternehmen sind, desto eher können sie die besten Mitarbeiter gewinnen, kundenorientierter werden und bessere Entscheidungen treffen.2
Wie geht responsAbility dieses Thema als verantwortungsbewusster, impact-orientierter Investor an? Zunächst einmal hat unser Management aktiv entschieden, diese Problematik ernst zu nehmen. Daher haben wir mit der Entwicklung strukturierter Massnahmen zur Förderung der Diversität und Inklusion begonnen. Auf Unternehmensebene hat eine vor Kurzem eingerichtete, unabhängige Gender and Diversity Advisory Group den Auftrag, Richtlinien und Initiativen zu analysieren und zu erarbeiten, um die Gleichstellung der Geschlechter und die Vielfalt in allen Bereichen des Unternehmens weiter zu verbessern. Auf Ebene der von uns gemanagten Fonds hat responsAbility zudem einen aktiven Dialog mit verschiedenen Stakeholdern – von Investoren über Förderinstitute bis hin zu unseren Portfoliounternehmen – gestartet, um das «Gender Lens Investing» zu fördern und Frauen in Entwicklungs- und Schwellenländern im Einklang mit der 2X Challenge besseren Zugang zu Führungschancen, hochwertiger Arbeit, Finanzdienstleistungen, unternehmerischer Unterstützung und Produkten und Dienstleistungen zu geben.
Die Covid-19-Krise fordert unseren Gesellschaften kritische Weichenstellungen ab. Aber wenn wir jetzt nicht die Geschlechtergleichstellung und Vielfalt in den Mittelpunkt stellen, wird die wirtschaftliche Erholung kaum richtig in Gang kommen. Wir sollten diese Chance nicht verpassen: An diesem Scheidepunkt haben wir die Möglichkeit, jüngere Generationen von Frauen dazu zu befähigen und zu inspirieren, Führungsverantwortung zu übernehmen und ein neues Paradigma zu schaffen, das die Geschlechterparität als das sieht, was sie ist – eine Grundvoraussetzung für das Glück und die Prosperität von Männern und Frauen.
[1] 2019 schätzte das World Economic Forum, dass es noch 202 Jahre dauern würde, bis die volle Parität erreicht ist. [2] IFC report: Moving Toward Gender Balance in Private Equity and Venture Capital
Marie Anna Bénard
Marie Anna Bénard ist Technical Assistance Officer bei responsAbility. Sie strukturiert und verwaltet Technical-Assistance-Programme in Entwicklungs- und Schwellenländern, die Investitionen unterstützen und zur positiven Entwicklungswirkung der verschiedenen von responsAbility betreuten Fonds beitragen. Marie Anna Bénard ist seit 2016 bei responsAbility und hat zehn Jahre Erfahrung im Projektmanagement und der technischen Unterstützung in den Bereichen finanzielle Inklusion, Klimafinanzierung und nachhaltige Landwirtschaft.
Sie ist Vorsitzende der Gender and Diversity Advisory Group von responsAbility.