Von Alvaro Torres

Wie Lateinamerikas Finanzsektor zum Schliessen der Geschlechterlücke beiträgt

Dezember 20257 min readFinanzielle InklusionGender equality, Impact, Microfinance

Potenziale und Herausforderungen genderinklusiver Finanzdienstleistungen

In Lateinamerika prägen Unternehmerinnen zunehmend die wirtschaftliche Realität. Fast 49 % der Frauen in der Region haben eigene Unternehmen gegründet, laut Daten aus 20251. Damit ist Lateinamerika und die Karibik die weltweit unternehmerischste Region für Frauen. Trotz dieser Dynamik haben jedoch 73 % der von Frauen geführten Unternehmen keinen Zugang zu den finanziellen Ressourcen, die sie für ihr Wachstum benötigen. Die geschlechtsspezifische Lücke bei der finanziellen Inklusion bleibt hartnäckig:

  • 70 % der Frauen verfügen über ein Bankkonto, verglichen mit 77 % der Männer2

  • 22.4 % der Männer haben laut eigenen Angaben formelle Kredite, gegenüber 17.2 % der Frauen3

  • Die Region weist eine der grössten geschlechtsspezifischen „Resilienz“-Lücken auf: 56 % der Männer, aber nur 39 % der Frauen geben an, innerhalb von 30 Tagen eine Notfallausgabe tätigen zu können4

Die Finanzierungslücke ist enorm: Von Frauen geführte KMU in der Region stehen einem Kreditdefizit von rund USD 93 Milliarden gegenüber, was rund 8% der globalen Finanzierungslücke für Unternehmerinnen ausmacht5. Diese Zahlen verdeutlichen sowohl die Dringlichkeit als auch die Chance, Finanzlösungen zu gestalten, die zur Verringerung dieser geschlechtsspezifischen Lücken beitragen. Genau darauf konzentriert sich die Global Gender-Smart Strategy6 – eine von responsAbility mitverwaltete Impact-Investment-Strategie, welche Finanzierung mit gezielter technischer Unterstützung kombiniert. Über diese Strategie arbeitet responsAbility mit Finanzinstituten zusammen, um Geschlechteraspekte in Produktdesign, Datensysteme und Kundenansprache zu integrieren. Auf diese Weise trägt responsAbility gemeinsam mit seinen Partnerinstitutionen dazu bei, bestehende Geschlechterlücken zu adressieren und eine inklusivere wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika und anderen Schwellenländern zu fördern.

Immer mehr Finanzinstitute erkennen die sich daraus ergebende Chance und Verantwortung. Doch was braucht es, um von guten Absichten zu wirkungsorientierter Umsetzung zu gelangen? Nachfolgend stellen wir drei Fallstudien führender Mikrofinanzinstitute und Banken aus der Region vor, die Teil der Global Gender-Smart Strategy sind.


Nah an der Kundschaft: Im Zweifel immer nachfragen

FAMA ist eines der grössten Mikrofinanzinstitute (MFIs) Nicaraguas und verfügt über mehr als 34 Jahre Erfahrung in der Betreuung von Kleinst- und Kleinunternehmen, insbesondere in peri-urbanen Gebieten. Ursprünglich mit Unterstützung von ACCION gegründet, hat sich FAMA einen Ruf für Widerstandsfähigkeit aufgebaut, indem es politische und wirtschaftliche Krisen überstanden und gleichzeitig eine solide finanzielle Leistung erbracht hat. Im MFI Index 2025 erreichte FAMA unter den teilnehmenden Finanzinstituten die höchste Platzierung in Lateinamerika, mit besonders starken Ergebnissen in den Bereichen Kundenresilienz und Gender-Impact.

Als FAMA das Kreditprodukt „Crece Mujer“ für Unternehmerinnen entwickeln wollte, stellte das Institut eine einfache Frage: Was wünschen sich Frauen tatsächlich von ihrem Finanzpartner? FAMA wollte das Produkt gemeinsam mit seinen Kundinnen entwickeln – nicht nur für sie. Eine Kundinnenbefragung brachte drei zentrale Erkenntnisse:

  • Flexibilität ist entscheidend: 78 % der befragten Frauen wünschen sich Kredite mit flexiblen Rückzahlungsoptionen, abgestimmt auf ihre Cashflows und Geschäftsrealität.

  • Unterstützung wird geschätzt, ist aber selten der Hauptgrund für die Wahl eines Anbieters: Über 70 % der Frauen führen ihr Unternehmen eigenständig. 35 % schätzen zwar geschäftliche Unterstützung, aber weniger als 10 % nennen Mentoring oder Schulung als primäres Auswahlkriterium.

  • Der persönliche Kontakt schafft Vertrauen: 42 % bevorzugen persönliche Gespräche, wenn sie Finanzprodukte kennenlernen – Beziehungen sind zentral für Loyalität.

Diese Erkenntnisse bildeten die Grundlage für die Pilotphase von „Crece Mujer“, das flexible Kreditkonditionen, Mutterschaftsleistungen sowie Schulungen zur finanziellen Inklusion umfasst. Die Ansprache der Zielgruppe erfolgt über digitale Kampagnen, Community-Workshops und Empfehlungsprogramme.

Von Erkenntnissen zur Umsetzung: Lücken schliessen, die Frauen betreffen

Die Rückmeldungen der FAMA-Kundinnen spiegeln die breiteren, systemischen Herausforderungen wider, mit denen Unternehmerinnen in Lateinamerika konfrontiert sind. Diese Lücken eröffnen Finanzinstituten wie FAMA die Möglichkeit, ihre Angebote zu verfeinern und ihre Wirkung zu vertiefen. Im Rahmen der TA-Facility arbeitete der Technical-Assistance-Provider (ein Konsortium aus Niras und Women’s World Banking) mit dem Produktteam von FAMA zusammen und gaben Empfehlungen für die Pilotphase:

  • Bekanntheit und Kommunikation: Selbst wenn flexible Kredite oder Betriebsmittellinien existieren, wissen viele Frauen nichts davon. Marketing und Kommunikation heben selten jene Merkmale hervor, die Frauen besonders wichtig sind, etwa Kredite ohne Sicherheiten, Mutterschaftsleistungen (z. B. eine einmonatige EMI-Subvention für schwangere Frauen) oder jährliche Gesundheitschecks.

  • Nicht-finanzielle Hürden: Viele Unternehmerinnen haben keinen Zugang zu praktischen geschäftlichen Fähigkeiten wie Unternehmensregistrierung, Steuerpflichten oder digitalen Zahlungssystemen. Finanzinstitute bieten häufig allgemeine Mentoring-Programme an, die jedoch an den tatsächlichen Bedürfnissen vorbeigehen.

  • Bias im Kreditvergabeverfahren: Unbewusste Vorurteile – sowohl menschliche als auch algorithmische – prägen weiterhin Kreditentscheidungen. Frauen stossen auf Hürden bei der Antragstellung, Verhandlung und im Kundenkontakt. Schulungen zu Gender-Sensibilität fehlen oft.

  • Datenlücken: Nur wenige Institute erfassen geschlechterdisaggregierte Daten zu Zufriedenheit, Retention oder Produktnutzung. Ohne diese Daten lässt sich weder Wirksamkeit beurteilen noch Prioritäten setzen.


Gezielte Kundenbindung und Gender-Inklusion: Der Ansatz von Solidario

Banco Solidario ist eines der führenden Institute für inklusive Finanzdienstleistungen in Ecuador und bekannt für seine starke Reichweite unter Mikrounternehmerinnen und einkommensschwachen Haushalten.

Solidario verfolgt einen klaren Gender-Smart-Ansatz, der über verschiedene kontinuierlich überwachte Kennzahlen gemessen wird. So sind beispielsweise 59 % der Kreditkundschaft im Mikrofinanzsegment Frauen. Auch unter den Neukundinnen im Mikrofinanzbereich liegt der Frauenanteil bei 62 %, und ebenso stellen Frauen 62 % der Teilnehmenden an den regelmässig durchgeführten Finanzbildungsprogrammen. Im Rahmen seiner Bemühungen zur Weiterentwicklung der Gender-Strategie arbeitete Solidario mit dem responsAbility-Partner Sagana zusammen – einer auf Gender-Mainstreaming und technische Unterstützung spezialisierten Impact-Beratungsfirma – um Verbesserungsmöglichkeiten in der Exit-Befragung zu identifizieren. Dieses Instrument ist entscheidend, um die Hauptgründe für Kundenabwanderung zu erkennen und wirksam anzugehen.

Sagana empfahl einen strategischen Wechsel in der Methodik: statt zu versuchen, jede Kundin und jeden Kunden zu halten, sollte sich Solidario gezielt auf die profitabelsten und loyalsten Segmente konzentrieren. Dazu gehört die Segmentierung der Kundschaft nach Profitabilität, Risiko und Loyalität sowie die Entwicklung gezielter Bindungsmassnahmen. Beispiele sind personalisierte Kontaktaufnahme vor Vertragsende, Anreize zur Teilnahme an Feedback-Gesprächen oder die Kombination von Krediten mit zusätzlichen Dienstleistungen. Sagana empfahl zudem, gezielte Lernsessions für Mitarbeitende an der Kundenfront durchzuführen und dabei Best-Practice-Beispiele jener Kundenberaterinnen und -berater zu nutzen, die besonders erfolgreich in der Kundenbindung sind. Ziel ist weniger die reine Reduktion der Abwanderung, sondern der Aufbau eines stabileren, widerstandsfähigeren Portfolios durch die Fokussierung auf die wichtigsten Kundensegmente.

Basierend auf den Empfehlungen führte Solidario gender-sensible Vertriebsschulungen durch und identifizierte Best-Practice-Ansätze zur Kundenbindung in seinen Filialen. Daraus entstand ein spezieller Workshop, der der gesamten Vertriebsorganisation vermittelt wird und nun ein zentraler Bestandteil der Einführungsschulungen der Bank ist.


Für mehr Inklusion gestalten: Cathays geschlechtersensible Befragungsstrategie

Banco Cathay ist eine spezialisierte KMU-Bank mit mehr als 25 Jahren Erfahrung. Sie ist einzigartig positioniert als einzige Bank des Landes mit einer eigenen Geschäftsabteilung für die asiatische Gemeinschaft, bietet Dienstleistungen auf Chinesisch an und pflegt enge kulturelle Verbindungen.

Um die Bedürfnisse seiner vielfältigen MSME-Kundschaft besser zu verstehen, insbesondere von Frauen geführten Unternehmen, unterstützte Sagana Cathay bei der Entwicklung einer geschlechterdisaggregierten Kundenzufriedenheitsbefragung. Die Befragung erfasst vier zentrale Indikatoren: allgemeine Zufriedenheit (CSAT), Kundenaufwand (CES), Net Promoter Score (NPS) und Verlängerungsabsicht. Zudem enthält sie Fragen zu weiblicher Eigentümerschaft und Führung, was eine tiefere Segmentierung ermöglicht. Aufgrund der sprachlichen Vielfalt entschied sich Cathay für telefonische und persönliche Befragungen statt rein digitaler Kanäle, um den Zugang zu erleichtern. Die nächsten Schritte beinhalten Unterstützung durch den TA-Provider, um die Fähigkeit der Bank zu stärken, geschlechterdisaggregierte MSME-Daten systematisch zu erfassen und zu berichten, die Ergebnisse zu analysieren und Produkte sowie Kommunikations- und Vertriebsstrategien darauf abzustimmen.


Der Weg nach vorn: Von Pilotprojekten zu systemischen Ansätzen

Aus den drei Fallstudien lassen sich mehrere klare Erkenntnisse ableiten, die von Finanzinstituten weltweit genutzt werden können, wenn sie geschlechtersensible Produkte und Dienstleistungen entwickeln wollen:

  • Mit Frauen gestalten, nicht nur für sie: Frauen aktiv in Produktentwicklung und Feedbackprozesse einbeziehen und Angebote iterativ verbessern.

  • Community- und digitale Kanäle nutzen: Frauen dort ansprechen, wo sie sich aufhalten – persönlich, online oder über lokale Netzwerke.

  • Nicht-finanzielle Dienstleistungen integrieren: Praxisorientierte Workshops und digitale Werkzeuge anbieten, die reale Geschäftsbedürfnisse adressieren.

  • Mitarbeitende schulen und Fortschritte messen: Gender-Sensibilisierung und belastbare geschlechterdisaggregierte Daten sind entscheidend.

  • Segmentieren und gezielt ansprechen: Daten nutzen, um profitable Kundinnen zu identifizieren und Produkte sowie Dienstleistungen an ihren Bedarf anzupassen.

Insgesamt zeigen diese Initiativen, wie Gender-Smart-Finance von Pilotprojekten zu umfassenderen institutionellen Ansätzen weiterentwickelt werden kann, die darauf abzielen, Unternehmerinnen in Lateinamerika besser zu unterstützen.

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